22 Der Sturm auf dem See


Jesus schlief hinten im Boot

Textquelle: Das Neue Testament - Übersetzung von Fridolin Stier, 1989 - MK 4,35-41

 

"Und er sagt zu ihnen an jenem Tag, als es Abend geworden: Fahren wir zur Jenseite! Und sie lassen die Leute stehen und nehmen ihn, wie er gerade war, im Boot mit; auch andere Boote waren mit ihm. Und ein gewaltiger Wirbelwind kommt auf und die Wogen schlugen ins Boot, dass schon das Boot sich füllte. Er aber war im Heck und schlief auf dem Kopfkissen. Und sie weckten ihn und sagten zu ihm: Lehrer, kümmert es dich nicht, dass wir zugrunde gehen? Und auf richtete er sich, herrschte den Wind an und sprach zum See: Schweig, verstumme! Und der Wind erlahmte – und es ward große Stille. Und zu ihnen sprach er: Wie feig ihr seid! Immer noch habt ihr keinen Glauben! Und Furcht überkam sie, große Furcht. Und sie sagten zueinander: Wer ist doch dieser, dass auch der Wind und der See ihm gehorchen?"


Predigt im Jahreskreis 2012


Meister - Wir kommen um

Liebe im christlichen Glauben versammelte Gemeinde,

was ist das für ein Mensch, dass ihm sogar der Wind und der See gehorchen? So fragten die Jünger damals. Bald werden sie fragen: Was ist das für ein Mensch, der die Kranken von ihren Leiden und Gebrechen zu heilen vermag, der Tote zum Leben auferwecken kann, der sich als Herr über Leben und Tod zeigt? Bevor wir versuchen diese Frage zu beantworten, wollen wir uns die missliche Lage der Jünger damals vor Augen führen. Wie konnten sie in eine solch ausweglose Situation gelangen?

Jesus weist an, an das andere Ufer hinüber zu fahren. Plötzlich erhob sich ein heftiger Wirbelsturm. Wellen schlugen in das Boot, es begann sich mit Wasser zu füllen. Wasser, Sturm und Wellen bringen sie in höchste Lebensgefahr. Als erfahrene Fischer konnten die Jünger vom See Gennesaret die Gefahr einschätzen. Sie sind verzweifelt – sie ringen mit dem Tod. In dieser Situation der Seenot liegt Jesus seelenruhig hinten im Boot auf einem Kissen und schläft. Schiff und Meer sind schon sehr früh ein Bild für die Kirche auf ihrem Weg durch die Zeit. Die Jünger: „Meister, kümmert es dich nicht, dass wir zugrunde gehen?“ Eine gewaltige Frage und Anfrage an den Herrn – gestellt von Menschen, die sich in höchster Gefahr und Not befinden.

Ist aber dies nicht auch immer wieder unsere Anfrage an Gott heute? Wie kann Gott angesichts all der Not, in die Menschen geraten können, schweigend zusehen? Wie kann Gott all die leidvollen Situationen, die einen aus heiterem Himmel überfallen können, zulassen? Leid durch unverschuldete Krankheit, Leid durch Katastrophen und Unglücksfälle, Leid durch Terror, Unterdrückung und Gewalt, vor allem bei Kindern. Denken wir an Kinderarbeit, Kinderhandel, Kinderprostitution, Organhandel, Armut und Hunger.

Es gibt aber noch ein anderes Phänomen, welches fast ausschließlich die westliche Welt, und hier in zunehmendem Maß die jungen Menschen, betrifft. Es ist – die Angst. Wie ein Gespenst geht sie umher, auch in der Kirche. Angst vor der Zukunft, Angst ums Überleben, Angst vor Behinderung, Krankheit, Schmerz, Angst vor Krieg und atomarer Bedrohung, Angst um den Arbeitsplatz, Angst um den Lebensraum. Nicht selten werden Ängste dabei in unverantwortlicher Weise geschürt und aufgeheizt. Begründete – oder nicht begründete Angst? Was hilft diese Unterscheidung dem Betroffenen? Die Angst geht um – auch bei uns. Haben die einen Angst, die Kirche halte nicht Schritt mit der Zeit, so haben die Anderen Angst, es gebe zu viele Neuerungen, die den Glauben gefährden. Oft kommt es dann zu einer eigenartigen Hektik und Betriebsamkeit in unserer Kirche. Christliche Hoffnung und gläubige Gelassenheit treten leider oft zurück. Als zu Beginn des zweiten Vatikanischen Konzils ein betagter Kardinal, aufgrund der vielen bevorstehenden Neuerungen und Veränderungen sorgenvoll zu Papst Johannes XXIII sagte: „Heiliger Vater, ich habe Angst um den Fortbestand der Kirche“, legte ihm dieser ganz sanft die Hand auf die Schulter und erwiderte: „Aber, mein lieber Bruder, hab doch Vertrauen! Angst ist keine christliche Kategorie."

Jesus liegt also hinten im Boot und schläft. Er schläft aber nicht aus Erschöpfung oder Teilnahmslosigkeit. Das Schlafen drückt vielmehr seine Geborgenheit und Unberührtheit, seine Sanftmütigkeit und Gelassenheit, inmitten des Aufruhrs der Elemente aus. Ganz anders die Jünger. Sie sind hellwach. In ihrer Panik wissen sie sich nicht mehr zu helfen. Aber sie spüren, dass, wenn überhaupt, dann vielleicht vom schlafenden Meister Hilfe zu erwarten ist. So wecken sie ihn und machen ihm Vorwürfe. Er wacht auf, nimmt zunächst aber nicht Stellung zu diesem Vorwurf, sondern bannt zuerst die Gefahr. Dabei behandelt er den Wind und die Wellen wie Dämonen. „Da stand er auf, drohte dem Wind und sagte zu der See: Schweig, sei still“. Danach trat völlige Stille ein. Die tosende See ist ein ‚Sinnbild des drohenden dämonischen Chaos‘, das Jesus durch sein Wort besiegt. Jesus handelt hier wie Jahwe, der Schöpfergott, der einst das Urchaos besiegte. Auch danach trat Stille ein, die Stille der reinen Schöpfung.

Erst jetzt befasst sich Jesus mit seinen Jüngern. Mit einer Doppelfrage macht er ihnen den Grund ihres Verhaltens und die Ursache ihrer Angst bewusst: „Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben?“ Jetzt ist also der Grund für ihr Verhalten und die Ursache ihrer Angst aufgedeckt. Ihnen fehlt der Glaube. Was aber meint Jesus damit? Was bedeutet hier für uns Christen Glaube? Glaube meint hier das unerschütterliche Vertrauen zu Jesus, der in allen Nöten und Gefahren Hilfe bringt. Glaube ist hier die unbedingte Gewissheit, dass Jesus rettetselbst dann, wenn er ‚schläft’, und sich nicht um uns zu kümmern scheint. Glaube ist hier die volle Zuversicht, dass man zusammen mit Jesus nicht zugrunde geht. Glauben im biblisch-hebräischen Sinn – 'aman' = Amen – meint also nicht ein Für-wahr-halten von Dingen, die man eben nicht besser weiß, sondern ein Sich-fest-machen in Gott, ein Trauen und Bauen auf ihn; ein Gründen der Existenz und ein Stand- und Bestandfinden in ihm, so der Prophet Jesaja. Und für den Apostel Paulus ist der Glaube, das im Blick auf Jesus Christus gefasste Vertrauen, dass Gott mir in jeder Lebenslage die Treue hält und der Halt und Inhalt meines Lebens ist. Glauben ist ein Amen-sagen zu Gott mit allen Konsequenzen. Es bedeutet die am tiefsten greifende Umwandlung eines Menschen, seines Selbstverständnisses und seines Lebens, wie das z.Bsp. bei Ijob[1], Edith Stein[2], Dietrich Bonhoeffer[3] und freilich Jesus Christus[4] der Fall war.

Liebe im christlichen Glauben versammelte Gemeinde,

ein solcher Glaube überwindet nicht nur die Angst, sondern er bewährt sich in allen Stürmen und Bedrohungen unseres alltäglichen Lebens. So wird die Botschaft des heutigen Evangeliums aktuell, wenn wir sie auf dem Hintergrund der Kirche, auf dem Hintergrund unserer Gemeinde und auf dem Hintergrund unseres ganz persönlichen Lebens, beispielsweise der Familie, betrachten. Nöte, Bedrängnisse, Probleme und Ängste müssen zur Sprache kommen. Auch in den Stürmen und Nöten unserer Tage ist Gott gegenwärtig und anwesend. Dafür bürgt er mit seinem Namen: Jahwe – Ich bin bei euch; unter euren ‚Kreuzen‘, in der unheilbaren Krankheit, beim Tod eines geliebten Menschen; und auch dann, wenn er weit von uns entfernt scheint. Solcher Glaube wird uns in allen Situationen des menschlichen Lebens eine besinnliche, vielleicht sogar eine heitere Gelassenheit schenken. Papst Johannes XXIII sagte einmal: „Wer den Glauben hat, der zittert nicht, er überstürzt nicht die Ereignisse, er ist nicht pessimistisch eingestellt, er verliert nicht die Nerven. Glauben, das ist die Heiterkeit, die von Gott kommt.“

In diesem Glauben – an ihn – lernen wir jetzt immer besser verstehen, wer er ist; Er, dem sogar der Wind und der See gehorchen. Es ist Jesus, der Herr, der von Gott verherrlichte und unter uns fortlebende Christus, dessen Geist in jedem von uns ganz persönlich wirkt. Er ist der Herr, der jetzt auch mitten unter uns ist – der sich uns schenkt in dieser heiligen Feier. Ihm begegnen wir nicht mit Furcht, sondern mit vertrauendem Glauben und partnerschaftlicher Liebe. Preisend, dankend und bittend stehen wir vor ihm, Jesus Christus, dem Sohn des lebendigen Gottes. Amen.

 

[1] Ijob: Der reiche und gerechte Araber Ijob verliert seine ganze Familie und seinen Besitz und kommt, indem er trotzdem an Gott festhält, schließlich wieder zu neuem Glück. Gott wendet sich an ihn und macht ihm deutlich, dass er dem Leidenden nahesteht und nicht Leid als Strafe für vergangene Sünden versteht, sondern er ein liebender Gott ist.

 

[2] Edith Stein: Am Vorabend ihrer Deportation nach Auschwitz schrieb sie am Schluss ihres letzten Briefes: "Konnte bisher herrlich beten". Dies ist Ausdruck von grenzenlosem Vertrauen und Glauben, von Friede und Ruhe, Sicherheit und Festigkeit, Geborgenheit und Zuversicht, selbst in bedrängtester Situation.

 

[3] Dietrich Bonhoeffer: Er hatte in der Bewährung der jahrelangen Haft und Ungewissheit über sein Schicksal nach schweren inneren Kämpfen das Vertrauen in Gottes Fügung trotz aller Zweifel und Anfechtungen nicht verloren, sondern eine - angesichts der ausweglosen Bedrängnis auch für unsere Zeit - beispielhafte geistige und religiöse Glaubenshaltung bewahrt. Die letzte Strophe seines unvergänglichen Gedichts im Januar 1945 - und uns als Auftrag hinterlassen - lautet: „Von guten Mächten wunderbar geborgen - erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen - und ganz gewiss an jedem neuen Tag".

 

[4] Jesus Christus: Gethsemane und Golgatha sind die Höhepunkte unsagbarer seelischer und körperlicher Qualen. Er ist bereit, den ‚Kelch des Todes’ zu trinken: „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe!“ Der leidende Gerechte wird um Gottes Willen den Leidenskelch annehmen. „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.“ Jesus legt hiermit sein Leben, das von Menschenhand genommen wurde, ganz in die Hände Gottes zurück.